Erfahren Sie im Essay mehr über
Ansatzpunkte und Hintergründe des Künstlers Mario Wolf.

Essay von Dr. Anja Wenn

Das Mysterium der Schönheit

Von Beginn an ist Wolf am schönen Körper interessiert. Erste Arbeiten, die vor allem in Airbrushtechnik entstehen, sind erotisch aufgeladene Männerakte, die zunächst mit mystisch-pathetischer Symbolik spielen, dann aber mehr und mehr auf jedes erzählerische Beiwerk verzichten. Sie feiern die Schönheit und Erotik des jugendlichen männlichen Körpers und scheinen zunächst ganz auf den spezifisch männlichen Blick ausgerichtet. Die Feinheit der Airbrushtechnik verleiht den Bildern eine fotorealistische Glätte, die die Sinnlichkeit zu einer fast aufdringlichen Schwüle werden lässt.

Doch Wolfs Blick bleibt nicht an der Oberfläche des Schönen und Jugendlichen. Stets ist den Bildern ein Titel beigegeben, der auf eine tiefere, melancholische Bedeutungsebene verweist und den Dargestellten zusätzliches Pathos verleiht. Der schöne Jüngling wird zum Stellvertreter und Darsteller menschlicher Seelenzustände. Und so liegt ihr Reiz auch im (ästhetischen) Gegensatz zwischen dem schönen Schein und einer schicksalhaften Tragik, die hinter den Dingen liegt.

Dass der jugendliche männliche Körper schön, ja geradezu der Inbegriff von Schönheit ist, das haben Künstler zu allen Zeiten, vor allem seit der Antike gewusst. Griechische und römische Bildhauer haben den Idealtyp des hübschen Knaben geschaffen, der in allen späteren Jahrhunderten – von Männern wie von Frauen – bewundert und unzählige Male kopiert wurden. Die Nacktheit und Erotik des Jünglings weist dabei stets über das augenscheinlich Sexuelle hinaus, ist Ausdruck von Sinnlichkeit und Darstellungsform für eine ganze Reihe mythologischer Figuren und Heroen, bis hin zur Verkörperung der Liebe selbst.

Auch eine Reihe der Männerakte von Mario Wolf tragen mythologische Titel. Damit greift er nicht nur eine kunsthistorische Tradition auf, mit der mythologischen Figur gleichsam einen Darstellungsanlass für den nackten Jüngling zu finden, sondern er nimmt auch die mit der Figur verknüpfte Geschichte und Bedeutung mit ins Bild – reduziert auf angedeutete Gesten und letzte Spuren der klassischen Attribute. Auf der Suche nach neuen Darstellungsformen für den mythologischen Stoff verzichtet er auf alles Anekdotische und versucht das zeitlos Menschliche hinter den Geschichten fassbar zu machen.

Der Blick hinter die Fassade

Wolf ist ein heimlicher Beobachter. Unterwegs mit dem Fotoapparat, als Medienkonsument oder Kunstbetrachter sammelt er Bilder von Menschen – und ist stets auf der Suche nach der Person hinter dem Bild. Portraits von Unbekannten, Menschen in ihrem Alltag, Momentaufnahmen von Menschen in ihren ganz individuellen Situationen, aber auch Models und Tänzer in artifiziellen Posen oder Schauspieler in Szenen voller Pathos. Über die Jahre ist so eine ganz persönliche Porträtsammlung entstanden. Menschen auf der Straße, im Urlaub, auf Partys, die sein Interesse geweckt haben, Werbung oder Filmstills, die von Körpersprache und Mienenspiel leben, Gesichter, die ihn aus irgendeinem Grunde fasziniert haben  … Und es gilt herauszufinden, warum.

Die unbekannten Portraitierten auf der Straße fühlen sich unbeobachtet, sind häufig in Gedanken versunken, in ihr momentanes Tun vertieft oder beobachten selbst, sind Teil von Alltagssituationen oder besonderen Ereignissen. Aus der Ferne fotografiert – heimlich beobachtet – gibt es keine Beziehung zwischen dem Fotograf und dem Portraitierten. Keine Kommunikation. Die Personen und ihre Geschichten bleiben unbekannt.

Heimlich beobachtet entfällt auch die Pose der Selbstdarstellung, die das Portrait für gewöhnlich begleitet. Vom Urlaubsfoto bis zur Portraitsitzung beim Fotografen oder Maler, vom Selfie bis zum Passfoto – stets sind wir bemüht, unserer Mimik und Gestik einen bestimmten, gewollten Ausdruck zu verleihen, eine Rolle einzunehmen. Wolf interessiert sich für das Unwillkürliche und Unverstellte, die pure Mimik, die unbewusste Geste. Den Moment, in dem sich die Person nicht hinter Rollen und Klischees verbirgt.

Umgekehrt verhält es sich bei den Models, Tänzern und Schauspielern. In ihren Bildern wird Körpersprache bewusst eingesetzt. Die Mimik ist die Rhetorik. Sie sind Lehrstücke für Darstellung und Pose, für das Vermögen des Menschen, Emotionen und Seelenzustände sichtbar zu machen. Und schließlich auch für den kleinen Schritt hin zur Künstlichkeit und zum Pathos.

Wolfs Bildersammlung dient ihm immer wieder als Fundus für neue Arbeiten. Mimik und Gestik der Portraitierten sind dabei – enthoben aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang – Ausgangspunkt und Material für neue und individuell zusammengefügte Bildkompositionen.